Rede: Jo Lendle

© Bundesregierung/Orlowski - Jo Lendle, Hanser Verlag

Rede: Jo Lendle

Verleger Hanser Verlag

Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Frau Grütters,

verehrte Kolleginnen und Kollegen,

meine Damen und Herren

Was für eine prächtige Runde! Preisträger, so weit das Auge reicht. Eltern pflegen auf Kinder­ge­burts­tagen irgendwann auszurufen: „Ihr habt alle gewonnen!“ Heute trifft das zu. Teil dieser Runde zu sein, ist bereits eine Auszeichnung. Nicht minder herzlich gratu­liere ich zur eigentlichen Auszeichnung: dem Deutschen Buchhandlungspreis, der Ihnen nun verliehen wird.

Der neu geschaffene Preis wirft in einer klugen, richtigen, notwendigen Initiative Licht auf etwas, das seiner gewaltigen Ausmaße zum Trotz in der Gesamtheit allzu leicht übersehen wird: den inhabergeführten Buchhandel in diesem Land. Er setzt sich aus vielen, erfreulich unabhängigen Einzelteilen zusammen. Aber heutzutage können zum Glück nicht nur Monolithen wie der Kölner Dom den Status eines Welterbes erlangen, sondern auch amorphe Strukturen wie Buchenwälder, Knabenchöre, das Wattenmeer oder die Deutsche Brotkultur. Ich schlage dringend vor, den deutschen Buchhandel zum Weltkulturerbe zu erklären. Er ist so schön und vielversprechend wie das Wattenmeer, nicht zuletzt dank seines saisona­len Tidenhubs aus Bücherfluten und sommerlicher Ebbe.

Käme er auf die Rote Liste? Als Ganzes sicherlich nicht. Aber unter Beobachtung stünde er wohl. Immerhin verändert sich sein Lebensraum in grundsätzlicher Weise. Frau Grüt­ters hat es bei Auslobung des Preises gesagt: Der digitale Wandel durchdringt sämt­liche Lebensbereiche.

Viel zu oft denken wir bei dem seltsamen Stichwort Digitalisierung nur an Vertriebs­formen: an E-Books, an Gratisdownloads, an Internetversender. Aber auch das Ringen um Auf­merksamkeit verändert sich. Wie Zeitungen und Buchverlage ihre Publikations­hoheit auf einmal mit Bloggern und Selfpublishern teilen, teilen sich Literatur­kritiker und Buchhändler ihre Beratungshoheit mit einem neuen Empfehlungswesen, das in erstaunlichen Ausformungen daherkommt, zum Teil auch mit einem verblüffend verächtlichen Blick auf die bestehenden Strukturen. In Slate schrieb Farhad Manjoo über den Buchhändler vor Ort: „Ihr wählt die Filme im Kino doch auch nicht danach aus, was der Kartenabreißer empfiehlt.“ Ein Missverständnis, aber ein sprechendes.

Was bei einem solch abschätzigen Urteil über Beratungsqualität gern unter den Tisch fällt: Man hat ja nicht nur das Buch gelesen, das man empfiehlt. Der wahre Aufwand liegt in der Beschäftigung mit all den Büchern, die man verschweigt. Auch wenn es bisweilen so aussieht, als sei Beratung im Buchhandel heute eher die Pflicht und die Kür liege in all den anderen Extras vom Kaffeeausschank bis zur literarischen Wanderung: Was für eine grandiose Pflicht ist das! So viel Sie alle nebenher noch tun, im Zentrum steht für mich Ihre Einschätzung, Ihr Zu- und Abraten.

Meine Erwartungen an eine Buchhandlung ist dieselbe wie beim Buch selbst: Ich möchte beim Rausgehen ein anderer geworden sein als ich beim Eintreten gewesen bin. Das kann durch einen Buchkauf geschehen oder ganz anders. Als George Whit­man in seiner Pariser Buchhandlung Shakespeare & Company gefragt wurde, wie er sich die Haare schneide, griff er zum Feuerzeug und zündete sich den Schopf an. Buchhändler sollten einen auf neue Gedanken bringen.

Von Luzia Braun haben Sie gehört, dass ich auch eine kleine Vergangenheit als Buch­händler in mir trage. Dabei gab es ursprünglich eine andere Bestimmung. Während mein Urgroß­vater als Papierfabrikant die spätere Richtung schon ganz gut vorzeichnete, beschritt der Schüler Lendle zunächst eigene Umwege: Als der Berufsberater unsere Wünsche abfragte, gab ich zur Antwort, ich sei mit Vorliebe an der frischen Luft, würde gerne Menschen helfen, sei gesprächig und könne ganz gut rechnen. Er gab alles in seine Maschine ein und das System ermittelte meinen Lieblingsberuf: Tankwart. Seither fühle ich eine innere Verbindung zum Berufsstand des Tankwarts. Dennoch: Das gern bemühte Bild von der Buch­handlung als geistiger Tankstelle der Nation ist mir immer ein wenig fremd geblieben. So zentral bei beiden der Service­gedanke ist: Das Sortiment ist bei Ihnen doch signifikant breiter als die Wahl zwischen Super und Super Plus. Ganz zu schweigen von den Unterschieden im Geruch. Und seit den Tagen von Helmut Schmidts Amtszeit hat die Tank­stelle zwischen Ressourcen­knappheit, Klimawandel und Aufback­brötchen erheblich an Aura verloren. Es ist Zeit für einen neuen Vergleich.

Auf der Suche nach einer heute gültigen Entsprechung bin ich im Geiste meine Straße entlanggegangen. Lässt sich der Buchhändler mit dem Friseur vergleichen, wegen der besonders nahen, bisweilen intimen Kundenbeziehung? Mit dem Bäcker wegen des täglichen Bedarfs? Mit dem Apotheker wegen der Beratungsintensität, des seriösen Auftritts und weil er der einzige ist, der es in Sachen Bestell­geschwin­digkeit mit dem Buch­händler auf­nehmen kann? Aber letztlich geht es dort dann doch nur um Pony­frisuren, Mehr­korn­brötchen und Aspirin.

Ich lief durch diese Straße und stellte mir vor, über jedem Laden würde eine Wolke schweben, die anzeigt, welche Versprechen und Möglichkeiten darunter versteckt sind. Eine Aureole verborgenen Mehrwerts und ungehobener Schätze. Die mit Abstand größte und leuchtendste Wolke er­hob sich über einem unscheinbaren Laden­lokal. Ich lief hin und stieß schließlich also doch noch auf etwas, das all die besonderen Qualitäten Ihres Berufs­stan­des ver­körpert. Eine Buchhandlung.

Buchhandlungen sind die Buchhandlungen der Nation! Eine zugegebenermaßen etwas überraschende, reflexive Metapher, aber die Literatur schätzt Überraschungen und Reflexion. Seien Sie stolz auf den Vergleich, was gäbe es Schöneres, als mit Ihres­gleichen verglichen zu werden. Um eine Coiffeursweisheit zu variieren: Was Buch­händler können, können nur Buch­händler.

Und: So tautologisch und selbstverständlich ist der Vergleich nicht. Es gab ja durchaus Stimmen, die ganz andere Mitspieler als zukünftige Sortimenter der Nation sahen.

Womit wir wieder bei den Internetversendern wären, gerade bei denen mit großem A. Letzte Woche war ich auf der Buchmesse in Rio de Janeiro, vorher unternahm ich einen Ab­stecher in den Regenwald, um vor Ort zu schauen, wie das geht: Überleben in Amazonien.

Die Regenzeit ging eben zu Ende und alles war überschwemmt. Hier und da schauten die Spitzen der Wipfel aus der Flut. Es gibt dort Bäume, die ein halbes Jahr unter Wasser stehen und trotzdem überleben. Bis Oktober ist Land unter und erst zum Jahresende hat man wieder Boden unter den Füßen. Das kommt jedem, der Geschäfte mit Büchern macht, bekannt vor: Bis zum Herbst steht einem das Wasser bis zum Hals und erst das Weih­nachts­geschäft reißt alles wieder raus.

In Amazonien geht es um Größe. Man will ans Sonnenlicht. Es gibt Bäume, die gar kein festes Holz aufbauen, sondern einfach so schnell wie möglich in die Luft wach­sen, nach einem Dreivierteljahr sind sie doppelt so hoch wie ein Mensch. Sofort bilden sie dichte Kronen, um Kon­kurrenten in den Schatten zu stellen. Nicht unbekannt. Andere drängeln sich vor, indem sie ihre Samen von Papageien in Astgabeln tragen lassen, sodass die Sprösslinge die Hälfte des Weges zum Licht schon mal hinter sich haben. Es gibt die Würge­feige, die sich direkt neben ihrem Opfer postiert und es so eng umschlingt, dass ihm die Luft wegbleibt. Auch dies ein Modell, das Nachahmer in unseren Innenstädten gefunden hat.

Mein Lieblingsbaum auf den Streifzügen durch den Dschungel war die Wander­palme. Sie will gar nicht hoch hinaus und steht fest auf einem Geflecht aus Wurzeln. Das Be­sondere: Wenn sie in den Schatten gerät, schlägt sie neue Wurzeln zur Seite und zieht sich weiter, bis es heller wird. Wenn ich unserer Branche eine Pflanze zum Vorbild wählen dürfte, mit einer Ba­lance aus Verankerung und Geschmeidigkeit, es wäre die Wander­palme: beweglich bleiben in einem erfreulich verwurzelten Geschäft.

Sie sind heute hier wegen Ihrer Beständigkeit, Ihrer Wurzeln vor Ort. Und ebenso wegen Ihrer Beweglichkeit. Letztere beweisen Sie schon, indem Sie am helllichten Tag mitten unter der Woche einen Preis für inhabergeführte Läden entgegennehmen. Da zeigt sich, wer gute Aushilfen hat. Oder verständnisvolle Kunden.

Ich kann die Gelegenheit, hier zu stehen, nicht ver­strei­chen lassen, ohne Ihnen Dank zu sagen. Und ich glaube, das in dreierlei Namen tun zu dür­fen:

Als Verleger danke ich Ihnen dafür, dass Sie unsere Bücher befördern, dass Sie ihnen ein Gesicht geben und sie begleiten. Dass Sie etwas riskieren, um alle halbe Jahre die Frech­heit zu begehen, eine solch unerhörte, unvergleichliche Menge Neuigkeit ins Land zu tragen. Ich danke, zähneknirschend, auch dafür, dass Sie man­che der Bücher bremsen – erst dadurch entsteht ja das Zutrauen, einer Empfehlung zu fol­gen.

Als Autor danke ich Ihnen für den Mut zum Eigensinn und für die Verantwortung, die im Wort Sortiment liegt. Für Ihre anhaltende Neugier auf Entdeckungen.

Und als Leser danke ich für die vielstimmige Stille, die findet, wer zu Ihnen in den Laden kommt. Für die Versammlung von Versprechen auf Ihren Tischen. Für die Bücher, die man nicht mitnehmen wollte und die man dann doch mitnimmt, weil Sie sie einem vor Augen legen oder ans Herz. Ich danke für diese besonderen Orte, die Sie sind, und für das einmalige Netz, das Sie gemeinsam bilden. Sie stehen nicht nur auf den Schultern von Riesen, zusammen sind Sie selber einer.

Ich brauche das. Wir brauchen das. Und ich wiederhole es noch mal, weil es im Trubel des Bücherherbstes oder des Weihnachtsgeschäfts oder während der Schrecken der Inventur nicht in Vergessenheit geraten soll: Wir brauchen Sie. Als Verlage, als Autoren, als Leser. Vielen Dank.