Laudatio Kategorie beste Buchhandlungen: Jan Wagner

© Bundesregierung/Orlowski - Jan Wagner, Lyriker, Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2015

Laudatio Kategorie beste Buchhandlungen: Jan Wagner

Lyriker, Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2015

Eine Tür hinein, viele hinaus

Kurze Lobrede auf die Buchhandlung

Verehrte Buchliebende, meine Damen und Herren: Drei Männer herrschten über die Bücherborde meiner Kindheit und Jugend – der rundliche, kompakte Herr M., der sich, weil Charles Dickens ihn im neunzehnten Jahrhundert zu erfinden versäumt hatte, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts selbstständig gemacht und eine Buchhandlung, nein: eine magische Buchhöhle in meiner Heimatstadt nahe Hamburg eröffnet hatte; Herr M., der sich auf engstem Raum schnaufend und seufzend, mit zerzausten grauen Haaren an Bücherstapeln, an alphoch geschichteten Büchergraten vorbeischob, im Dienste einer höheren Gewalt durch Literaturschluchten eilte und kühn, von nichts als seinen Hosenträgern gesichert, schwindelerregende Regale erklomm, all das in einem morgens noch blütenweißen, ja makellosen Hemd, das aufgrund einer entsetzlich juckenden Schuppenflechte bei Ladenschluß über und über mit roten Punkten versehen war; Herr M. also und seine beiden jüngeren Mitarbeiter Rolf und Joachim waren es, die zu dritt mit ihren unentwegt entzündeten filterlosen Zigaretten derart monströse Rauschschwaden zu schaffen verstanden, daß Titel und Verfasser auf den Buchrücken kaum mehr zu erkennen waren, und die jeden Ankömmling, der sich nicht auszuweisen wußte, jeden Neukunden, sofern er nicht ein Mindestmaß an literarischem Geschmack verriet, mißtrauisch über den Rand der stets präsenten Kaffeebecher beäugten; die also, kurz gesagt, nicht nur meine Regale, sondern die Bibliotheken sämtlicher Freunde und Verwandter, ja der gesamten Region mal wohlwollend, mal streng überwachten. Sicher: Der gewünschte drittklassige Kriminalroman oder die heißersehnte Schmonzette, die, das versteht sich, nicht im Bestand waren, konnten durchaus bestellt werden, falls es sich partout nicht vermeiden ließ – falls also die Kunden auf ihren absonderlichen Wünschen beharrten und sich nicht einem der drei ewigen Hausgötter unterwarfen, also Hemingway, Faulkner und Hans Erich Nossack, deren Vorzüge von ihren qualmenden, schwärmenden, gestikulierenden Jüngern nun so lange und so überzeugend gepriesen wurden, bis man krimi- und schmonzettenlos, dafür mit mehreren Büchern der Penaten Hemingway, Faulkner und Nossack unterm Arm auf die Straße zurücktrat. Noch vor wenigen Jahren, als ich, wie bei jedem meiner Besuche in der alten Heimat, in meiner ersten, also der einzig wahren und mich auf immer prägenden Buchhandlung vorbeischaute, präsentierte man mir stolz ein Glückwunschschreiben des Suhrkamp Verlags: Man habe allein in dieser kleinen Buchhandlung einer unscheinbaren norddeutschen Stadt bislang rund zwei Drittel der Gesamtauflage Hans Erich Nossacks verkauft.

Welch eine Macht – und was für eine Verantwortung für so viele lesende Seelen noch dazu! Und so waren die drei Herren denn alles andere als bloße Verkäufer; sie waren, nicht nur für mich, Lehrer, Berater, freundschaftliche Erzieher und Einflüsterer, jeder einzelne von ihnen ein Lotse, ein Vergil. Viele Geschäfte und Marktstände aus meiner Kindheit sind mir noch lebhaft in Erinnerung, der Süßigkeitenhändler etwa, dessen Nachname Mars lautete und der also, all den klebrigen Fruchtgummis und Schokoriegeln zum Trotz, mit dem straffen römischen Kriegsgott verwandt war, auch der Gemüsemann auf dem Wochenmarkt, den alle wegen seines markerschütternden Organs nur den Schreihals nannten, sogar der Würstchenbräter – aber all das sind Erinnerungen, die auf einer rein sinnlichen Ebene, nah am Gaumen und am Auge verharren. Es waren willkommene Lockungen und Sensationen, so daß ich, das Kind, gerne mit zum Markt ging, „in die Stadt“, wie wir sagten; doch wenn es hieß, wir würden anschließend noch in der Buchhandlung M. vorbeischauen, so wurde aus dem Vormittag weit mehr, war mit diesen schlichten Worten ein sicheres Abenteuer verbunden. Denn es war ja so, daß man durch nur eine Tür von der Hagener Allee hineingelangte in die Buchhandlung, sich aber durch unendlich viele Türen wieder hinaus finden ließ: Ins sommerliche Dublin des Jahres 1904, in dem Leopold Bloom für immer und ewig ein Stückchen Zitronenseife kauft; ins Yoknapatawpha County des amerikanischen Südens; in das englische Gasthaus Admiral Benbow und von dort weiter auf eine namenlose Schatzinsel; in den Laderaum des Walfangschiffes Pequod; nach Ithaka und in die französische Kleinstadt Combray und in den Badeort Balbec, gemeinsam mit einem gewissen Monsieur Swann. Auch lernte ich die Landschaften und Städte jener Dichter kennen, die für mich noch so viel bedeutsamer werden sollten als die Erzähler – das Wales von Dylan Thomas, Trakls Salzburg, das Berlin von Heym und Benn und das Rutherford von William Carlos Williams. So maßgeblich wurde die Buchhandlung für mich, daß ich sogar ein Praktikum in ihren herrlich chaotischen Räumen absolvierte, die rein gar nichts von der deprimierenden Akkuratesse der Warenhäuser und der üblichen Geschäfte, aber alles von den ungebändigten, energiedurchflossenen Wirkungsorten der wahrhaften Meister hatte, die ein Ort für Liebhaber und Abenteurer war, und so steuerte ich ein paar Wochen lang zwischen der Skylla der Vorbestellungen und der Charybdis der Neuerscheinungen durch ein mythisches Nebelmeer von Filterlosen und hatte, Krönung meiner kurzen Lehrzeit, sogar Zutritt zum Lager hinten im Laden, durfte die Falltreppe ins Schummrige hinuntersteigen. Howard Carter kann nicht aufgeregter gewesen sein als ich, als er im Tal der Könige die Grabkammern der Pharaonen entdeckte.

Verzeihen Sie diese Abschweifungen, die ja nur vermeintlich Abschweifungen sind, denn es geht natürlich, Sie alle wissen es, ums große Ganze, das nirgendwo so wunderbar zu erkunden und zu ermessen ist wie in einer reich ausgestatteten Buchhandlung. Zwei jener drei Vertrauensmänner sind schon vor Jahren gestorben; und nun, vor gerade einmal zwei Monaten, haben die Nachfolger nach langem Kampf aufgeben müssen. Wie gut und wie heilsam zu wissen also, daß all die Tapetentüren und Geheimgänge anderswo noch verfügbar sind, daß die Flucht- und Schleichwege in Merzing, Heidelberg und München weiterhin offen stehen – dank der Damen und Herren, die in den Buchhandlungen Rote Zora, artes liberales und Literatur Moths als Wegbereiter, Ortskundige, Lehrmeister und Ermunterer all denen zur Seite stehen, die es nach Rat, Begeisterung und Kennerschaft verlangt. Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Preisen – und ich beglückwünsche Ihre Kunden, die wissen werden, welchen Schatz sie in ihrer Nachbarschaft haben und erhalten dürfen. „Ein Buch ist eine Botschaft, die den erreichen soll, für den sie allein bestimmt ist.“ Welcher Schriftsteller das gesagt hat? Eben derselbe, der darauf beharrte, daß das, was sich nicht träumen lasse, keine Wirklichkeit habe, und der auch Folgendes zu Papier brachte: „Mir scheint, wenn sich unser Verhältnis zur Literatur überhaupt definieren läßt, daß sie uns ein Verständigungsmittel mit denen ist, die wie wir irgendwo in der Welt ein Partisanendasein führen, eine Art Geheimsender, der die Welt hinter den offiziellen Kulissen nach dem Menschen abtastet.“ Sie wollen den Namen des Autors wissen? Nun, halten Sie irgendeinen Passanten auf dem Marktplatz oder in den Straßen einer kleinen norddeutschen Stadt in der Nähe von Hamburg an und fragen Sie ihn. Er wird Sie anblicken, erstaunt und fast ein bißchen vorwurfsvoll ob Ihrer Unwissenheit, und antworten: Nossack. Und seine Augen werden ein kleines bißchen leuchten dabei.